Einflugschneise in Indien: Delhi

New Delhi, 30.10.2018
Man glaubt es kaum. Alles hat geklappt. Von Stuttgart nach Zürich war die Verspätung des Abflugs zuerst Bedrohung, löste sich jedoch schnell auf. Die 7 Stunden von Zürich bis Delhi waren kurzweilig, es gab Getränke und eine leckere Mahlzeit, viel gute Gespräche mit den Sitznachbarn (ein Sikh aus dem Punjab und ein Litauer aus den USA).
Manchmal, wenn man aus dem kleinen Fenster lugte, schien es, man erkenne eine bestimmte Großstadt da unten oder die Küste des Schwarzen Meeres, die ostanatolische Steinwüste.
Über Georgien kokettierte vor uns der Himmel in strahlend hellem Blau. Darunter ein leuchtend blaues Band bis zur Linie zwischen Himmel und Erde. Darin die Sonne als orangeglühender Feuerball, der man - wie gesagt wird - nicht ins Gesicht sehen kann.
Später taucht 12000 m unter uns ein spärliches Lichtermeer auf. Tiflis oder Baku vielleicht. Die stockfinstere Nacht begleitete uns nun von Afghanistan bis zum Subkontinent.
Der Haken beim Landen in Delhi ist: Es geschieht meistens bei Dunkelheit. Komischerweise. Manchmal ziemlich weit nach Mitternacht oder noch nicht nah am Morgen.
Unsere Swiss-Air-Maschine landete fast fahrplanmäßig fünf Minuten vor Mitternacht, was man nicht symbolisch verstehen sollte. Man kommt jedenfalls in einer schlafenden Stadt an.
Die Immigration mit dem E-Visa dauerte lästig lang, nachts um ein Uhr, aber die Koffer standen dafür schon welk bereit, der Geldautomat spuckte das Geld aus und am Ausgang ein Schild mit unseren Namen. Deepak, der Taxi-Driver, der uns bei den ersten dünnen Schreckensschreien über den ungeordneten Verkehr auf den überfüllten Straßen nach dem Airport beruhigte: „Be relaxed, I am an indian Driver“, fährt später durch Geisterstraßen, an Müllhalden und Unmengen von provisorischen Schlafzelten vorbei, davor und daneben tausende Knäuel verrenkter Gestalten in den dunkelsten aller Nischen und Winkel. Manchmal jaulen Hunde. Der aufgeblasene Halbmond hüllt alles in barmherzige Dunkelheit. Die Szenerie hat aber auch etwas Gespenstisches. Im schäbigen Hotel im schäbigen Parharganj-Viertel (da möchte man nachts und vielleicht auch tagsüber nicht allein spazieren) mit dem hochtrabenden Namen „Hindustan-Hotel, by Backpackers Heaven“) fielen wir ins Bett und schliefen bis zum Mittag.
Am nächsten Tag dann die erste Indien-Lektion: ein Spaziergang durch die Main Bazaar Street von Paharganj.
Hier kann man mit Berechtigung das harmlose Wörtchen „Chaos“ verwenden. Die Menschen überschwemmen sich in den engen Gassen, sind sich be-rührend nah. Das Gewimmel von Touristen, Rikschas, Straßenverkäufern, hochbeladenen Trägern, Bettlern, Sadhus und eingeklemmten Taxis ist nervtötend.
Entschieden vielfarbige Saris, bunte Kutas und Kaftane, weiß oder schwarz, neben halblebigen, schmutzigdünnen Dürren mit Fetzen am Leib und Wunden, dazwischen sperrige, selbstherrliche Kühe, devote Hunde, alle paar Meter ein Marktschreier vor seinem Laden, für den er noch etwa 20 halbverhungerte Schlepper eingestellt hat, dazwischen führen die Fahrer ihre Ausweichmanöver und Künste vor und gibt es kein Weiterkommen, dann klingeln und hupen sie, was das Zeug hält.
Dieses Gehupe, Gekreische, diese Schreie!
Oben von der Dachterrasse des „Hare Krishna Cafes“, zu der wir auf engsten Wendeltreppen auf allen Vieren hochgekrabbelt waren, betrachten wir das verkeilte Chaos auf dem Markt und den Gassen und genießen das tumultartige Theater unter uns wie in einer Königsloge. Der übervölkerte Subkontinent zusammengeschmolzen auf einer Kreuzung, unsere Bühne.
Aber nichts ist, wie es scheint. Nicht die Inder, nicht die indische Wirklichkeit, nicht einmal der indische Himmel darüber. Er ist nicht blau und strahlend, eher grau, überlebensgrau.
Und wie war dein erster Eindruck, Edithsche?:
Die Außentemperatur sagt 28 Grad - eigentlich bestes Explorerwetter!
Aber nach kurzer Zeit fühlt man sich wie eine ausgequetschte Tube und ist allem überdrüssig... die Händlerstände quellen bis auf die Straße, der fahrende Verkehr sucht Durchkommen in der Breite und dazwischen wir und natürlich im Weg. Lärm, Staub, Hindilaute und Hindienglisch, bettelnde Hände, traurige Augen und Hupenhupenhupen und nochmal, ein noch lauteres Hupen. Überlebenskampf, Suche nach Geld - einschließlich uns, weil die ATMs uns kein Geld auf unsere goldene Karte haben.
Klaus hält die Schlepper gut auf Distanz, während ich doch immer angeregt Gespräche führe und erst bei „Tourist Shop“ und free map merke, dass es Zeit wird, das Gespräch zu beenden.
Es scheint, wenn der Inder sich ans Steuer eines Fahrzeugs setzt, dass in ihm blitzartig die eingebaute „Sehnsucht nach Beschleunigung“ aufflammt. Verlässt er das Steuer, kann er wieder stundenlang und in seliger Ruhe sitzen und schauen. Er wird wieder Inder.
Und genau dieser Leidenschaft hatten wir es zu verdanken, dass wir am nächsten Morgen einen wahren Sightseeing-Marathon erlebten.
Denn Jeevan, unser Taxifahrer, war davon besessen. Er rühmte sich und trat den Beweis in jeder sich ihm bietenden Gelegenheit professionell an, schneller von A nach B zu kommen wie die Mehrheit.
Man benötige drei Dinge dazu: Hupe, Bremse und Durchsetzungskraft.
Ein ums andere Mal demonstrierte er uns seine Fähigkeit, dem Vorder-, Hinter- oder Nebenfahrer die Einsicht zu vermitteln, dass sofortiger Stillstand oder ein kleines Zurückweichen die einzig sinnvolle Möglichkeit in dieser vertrackten Situation sei. Und wenn er mal die Bremse betätigen musste, dann hart und effektiv.
The other way of tourist live - gestern ganz nah dran - heute distanziert im Auto. Die Boulevards sind so groß, dass man den Gegenverkehr nicht sieht. Ach nein, es ist Linksverkehr.
Jeevan ist Brahmane, vielleicht so um die 40 und nicht verheiratet.
Heute ist Samstag und die besuchten Orte sind teilweise überfüllt.
Noch ein spezieller Samstag dazu, an diesem Samstag gehen die Frauen für ihre Ehemänner beten, für deren Gesundheit und langes Leben. Klaus besteht darauf, dass ich für ihn auch beten soll.
Jeevan denkt, dass es für uns besser wäre, wenn wir die 7 Wochen mit ihm fahren würden, anstatt mit dem Zug. Er könnte die Zugfahrten rückgängig machen. Aber an der Stelle denke ich immer „Mensch, wir sind Schwaben und wollen unter d´Leit“. Mal sehen, ob wir in 7 Wochen noch genauso denken?
Er klärt uns auf darüber, dass rotgefärbtes Haar keinen Glaubenshintergrund hat, sondern Bolliwoodanhimmlung ist. Alles, was in Bolliwood angesagt ist, wird gutgläubig kopiert. Fast wie bei uns.
Indiens Hauptstadt mit demnächst wohl mehr als 20 Millionen Einwohnern ist der dynamische und ständig wachsende Dreh- und Angelpunkt des Subkontinents.
In New Delhi, dem modernen Teil, werden Geschäfte und Politik gemacht und breite, saubere Boulevards, Villen, Botschaften, Regierungsgebäude, Parks und Paläste prägen das Bild. Die Ober- und aufstrebende Mittelschicht hat sich hier behaglich eingerichtet.
Im Süden, hinter diesem modernen Gesicht verbergen sich auch jahrhundertealte Grabstätten, Tempel und Ruinen ganzer Städte aus urgeschichtlicher Zeit.
Wie gesagt, dank der ausgeprägten Künste von Jeevan gab es kaum Stillstand und wir konnten an diesem Tag eine Menge Plätze in New und Süddelhi besuchen:
1 Den kunstvollen Hindutempel „Lakshmi Narayan Mandir“
2 einen funktionierenden ATM am Connoughtplace
3 den überaus interessanten Sikhtempel „Bangla Sahib Gurudwara“
4 das „India Gate“ samt leergefegtem Prachtboulevard „Rajpath“ und Regierungshügel mit Parlament
5 das „Ghandi Smirti“, der Ort, wo dieser charismatischste Führer der Weltgemeinde die letzten Tage
verbrachte und am 30. Januar 1948 von einem Hindu-Extremisten erschossen wurde.
6 die prachtvollen “Lodi-Gärten“, in denen man sich königlich entspannen kann,
7 und nach einem Mittagessen (Butter Masala Paneer mit Naanbrot und Biriyani mit Ei) im schnellen
Restaurant
8 beim von pilgernden Menschenmassen eingehüllten Lotustempel der Weltreligion Baha’i,
9 dem staatlichen Kunsthandwerkermarkt, wo wir für jeden eine bunte Kurta erstanden und schließlich
10 zum Abschluss das einzigartige Mausoleum des 2. Mogulkaisers Humayum, in einem weitläufigen
Garten gelegen.
Nebenbei bemerkt: abseits vom Steuer war Jeevan ein ausgesprochen freundlicher und besonnener Mensch.
Nicht ganz klar war, weshalb wir nach dieser Tortour ohne Abendessen und sehr früh ins Bett fielen.
Von Schicksalsschlägen ( Sperrung unserer DKB-Karte, Schwierigkeiten, Geld zu ziehen, Telefonattacken durch indische SIM-Karte, Bilder können nicht auf die Webseite hochgeladen werden, Internetverbindung fällt aus und ist zu langsam) gebeutelt und niedergedrückt, bekam Edith am Morgen auch noch einen ausgewachsenen Durchfall mit Übelkeit und Schwäche, so dass wir unser Programm Programm sein ließen und den Tag weitgehend im Zimmer oder im Bett schlafend verbrachten. Auch an Essen ( mit Ausnahme zweier Bananen) war nicht mit Wonne zu denken.
Wahrscheinlich habe ich (Edith) zuviel für Klaus gebetet.
Das ist hier natürlich schon ein Problem.
Kein Inder ab Mittelschicht aufwärts trinkt in Delhi das Wasser so, wie es aus dem Hahn kommt - oder es ist ein Filter eingebaut. Tut er es dennoch, wird er die nächsten Tage alles, was er in sich hat, von sich geben, oben wie unten. Und das ist kein Zuckerschlecken. Diese Krankheit nennt der Inder „Delhi-Belly“. Eigentlich ist es keine Krankheit, sondern bloß die Umstellung des Immunsystems. Dies wird nämlich in dieser Zeit einer anderen Welt von Bakterien angepasst. Und wer sich eben nicht anpassen will, muss von morgens bis abends hellwach sein. Es wird ja alles mit diesem „Wasser“ gewaschen. Und bei den Mineralwasserflaschen musst du wie ein Luchs aufpassen, dass der Drehverschluss nicht manipuliert und unversehrt ist.
Wollen wir mal hoffen, dass es sich um einen Reisedurchfall handelt und es bei Edith nach diesem Gesundheitsschlaf wieder aufwärts geht.
Es hat sich was getan über Nacht.
Edith geht es besser, zum Frühstück nimmt sie aber nur 2 Tassen Tee. Dabei kamen wir mit einer Spanierin, die seit 6 Jahren in Varanasi eine Reiseagentur betreibt und Indien liebt, und einer jungen Holländerin ins lange Gespräch. Sie schwört auf die ATMs der Citybank und später am Connoughtplace stellen wir fest: sie hatte recht und es gab jede Menge Rupien. Holederadio oder so!
Der Connaught Place ist das Herz von New Delhi und gar nicht weit von unserem Viertel, Pahar Ganj, entfernt. Rund gebaut, in Blocks aufgeteilt und von einer sechsspurigen Straße umgeben, die gerne mal zwölfspurig oder mehr genutzt wird. Kommt auf die Breite der Fahrzeuge an. Man geht durch die Kolonnaden und durch ein buntes Nebeneinander von alt und neu. Das alte Indien ist draußen und verkauft an kleinen improvisierten Ständen neben Kleidern und Schuhen auch Schnürbänder, Postkarten, Kautabak, Räucherstäbchen und einzelne Zigaretten, das neue Indien ist drinnen und bietet in in den glitzernden Schaufenstern die kosmopolitische Vielfalt der Weltmarken an.
Am Nachmittag dann der Ausflug nach Old Delhi mit seinem chaotischen Gassengewirr, den Basaren und dem unfassbar chaotischen Verkehr. Dieses Viertel ist muslimisch und die Stadt der Moguln, deren großartige Monumente wie das Rote Fort oder die Freitagsmoschee „Jama Masjid“ von der etwa 500jährigen Geschichte des Islam in Indien erzählen. Old Delhi ist nicht der älteste Teil der Stadt, wie man meinen könnte. Es wurde nämlich erst im 17. Jahrhundert von Shah Jahan erbaut,
Auf den Straßen sieht man jetzt Wasserverkäufer, viele hundert Träger mit aufgetürmten Lasten, hochbeladene Karren, von unterernährten, staubigen kleinen Männern ohne Alter vorwärtsgetrieben, die Kühe und Ziegen, die Rikschas.
Die größte Moschee Asiens war unser Ziel. Dorthin brachte uns ein noch sehr junger Rikschahfahrer, der gerade heute seine Fahrerlaubnis bekam und wir waren tatsächlich die ersten Kunden. Ein Trinkgeld dafür war angemessen. Auch wenn er an einem massiven Stau in einer Seitengasse die Segel streichen musste und wir uns etwa 1 km zu Fuß durch die Menschenmassen rempeln und quetschen mussten.
Die Freitagsmoschee ist von Basaaren, Menschenmassen, Müll und Steinwüste umzingelt und beim Rundblick von der Treppe zum großen Tor hat man das Gefühl, auf einem Rummel oder Jahrmarkt zu sein.
Im grandiosen Innenhof, der 25 000 Gläubigen Platz bietet, wimmelt es von Gruppen junger Handymenschen bei ihrem Zeitvertreib. Erst bei Beginn des Sonnenuntergangs, als der Muezzin seinen berühmten Spruch von Allah, der der Größte sei, in den Äther sang, schritten uns zum Gebet entschlossen Langbärtige entgegen und musterten uns Ungläubige mit zornig grimmigem Blick.
Nur Allah wird wissen, warum das Chaos des Verkehrs mit Einbruch der Dunkelheit sich noch verschärfte. Wir jedenfalls kamen relativ spät wieder in unser Viertel, wo wir erstmals seit 2 Tagen ein Abendessen hatten (Edith eine Hühnerbrühe mit Nudeln und ich ein Thali).
Und heute standen wir in aller Frühe (5:15 klingelte der Wecker) auf und ließen uns mit Rikschah durch leere Straßen ohne das geringste Chaos zur New Delhi Railway Station fahren.
Auch hier klappte alles wie am Schnürchen (Die e-Tickets, im September in Deutschland bestellt, funktionierte) und wir wurden sehr gut mit Snacks, Getränken und Tee versorgt. Der DehraDun Express brachte uns in 4 Stunden 30 Minuten nach Haridwar, im Staate Uttarakand am Fuße des Himalaya.